Suche

Die Suche am falschen Ort

Worum es hier geht, ist die Frage: „Wem gehöre ich? Gott oder der Welt?“ Vieles von dem was mich täglich beschäftigt weist darauf hin, daß ich mehr der Welt als Gott gehöre. Ein bißchen Kritik ärgert mich, ein bißchen Ablehnung deprimiert mich. Ein bißchen Lob hebt meine Lebensgeister, und ein bißchen Erfolg beflügelt mich. Es gehört sehr wenig dazu, daß ich obenauf oder ganz unten bin. Oft bin ich wie ein kleines Boot auf dem Meer, völlig den Wogen ausgeliefert. Die ganze Zeit und Energie, die ich brauche, um einigermaßen das Gleichgewicht zu bewahren und nicht umzukippen und zu ertrinken, zeigen, daß mein Leben größtenteils ein Kampf ums Überleben ist: kein heiliger Kampf, sondern ein angsterfüllter Kampf. Er kommt aus der falschen Vorstellung, daß die Welt bestimmende Macht über mich hat.

Solange ich hin- und herrenne und frage: „Liebst du mich? Liebst du mich wirklich?“, gebe ich alle Macht den Stimmen der Welt und mache mich zum Sklaven, denn die Welt ist voller Wenn und Aber. Die Welt sagt: „Ja, ich liebe dich, aber nur, wenn du hübsch, intelligent und reich bist. Ich liebe dich, aber nur, wenn du eine gute Bildung, eine gute Stellung und gute Beziehungen hast. Ich liebe dich, aber nur, wenn du viel produzierst, viel verkaufst und viel kaufst“. Unzählige Wenn und Aber machen mich zum Sklaven, denn es ist unmöglich, allen gerecht zu werden. Die Liebe der Welt ist und bleibt abhängig von Bedingungen. Solange ich mein wahres Ich immer wieder in der Welt bedingter Liebe suche, werde ich der Welt „verfallen“ bleiben […]. Es ist eine Welt, die süchtig macht, weil das, was sie bietet, das tiefste Suchen meines Herzens nicht stillen kann.[…]

Jedesmal, wenn ich bedingungslose Liebe suche, wo sie nicht zu finden ist, bin ich der verlorene Sohn. […] Gott hat seine Arme nie zurückgezogen, seinen Segen nie zurückgehalten, nie aufgehört, seinen Sohn als den Geliebten anzusehen. Aber der Vater konnte seinen Sohn nicht zwingen, zu Hause zu bleiben. Er konnte ihm seine Liebe nicht aufdrängen. Er mußte ihn in Freiheit gehen lassen, auch wenn er um den Schmerz wußte, den es seinen Sohn wie auch ihn kosten würde. Die Liebe selbst hielt ihn davon ab, den Sohn um jeden Preis zu Hause festzuhalten. Die Liebe selbst ließ ihn seinem Sohn die Möglichkeit geben, sein eigenes Leben zu finden, auch auf die Gefahr hin, es zu verlieren. Hier enthüllt sich das Geheimnis des Lebens. Ich werde so sehr geliebt, daß es mir freisteht, von Zuhause wegzugehen. Der Segen ist von Anfang an da. Ich bin weggegangen und gehe immer wieder weg. Aber der Vater hält Ausschau nach mir mit ausgestreckten Armen, um mich wieder aufzunehmen und mir wieder ins Ohr zu flüstern: “ Du bist mein lieber Sohn, du gefällst mir.“

Henri J.M. Nouwen aus „Nimm sein Bild in dein Herz“ (1991)