Leben nach der Fehlgeburt

Vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Abschied vom Kind.von Jutta KoslowskiMein Mann Erich und ich, wir haben uns schon immer eine große Familie mit vier Kindern gewünscht. Im Januar 2001 wurde unser Sohn Erich Jakob geboren, genau drei Jahre später unsere Tochter Sarah. Als sie ein Jahr alt war, verspürte ich wieder den Wunsch nach einem Baby – diesmal sollte der Altersabstand nicht ganz so groß sein wie bei unseren ersten beiden.Im Februar 2005 war ich wieder schwanger. Ich registriere das immer sofort; schon drei Tage nach dem Ausbleiben meiner Periode habe ich einen Schwangerschaftstest gemacht, und die beiden Streifen erschienen auf dem Papier. Es war ein Sonntag – am Abend dieses Tages habe ich meiner Familie die „freudige Nachricht“ überbracht. Wir saßen alle zusammen auf dem Sofa und haben einen Familiengottesdienst gehalten, dabei haben wir dann auch für das neue Baby gedankt und gebetet und gemeinsam aus der Bibel den „Lobgesang der Hannah“ gelesen in 1. Samuel 2, 1–10. Da ist Hannah voller Freude darüber, dass sie mit ihrem Sohn Samuel schwanger ist, und sie jubelt: „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn …“Ich habe mich von Anfang an unglaublich gefreut über diese dritte Schwangerschaft – sogar mehr als bei den anderen Kindern. Noch am gleichen Abend habe ich einen Schwangerschaftskalender im Wohnzimmer aufgehängt. Am nächsten Morgen habe ich mir stundenlang Zeit genommen, um eine Geburtsanzeige für unser Kind zu entwerfen. Sofort habe ich Gott und der Welt von dieser Schwangerschaft erzählt und mir schon bald mit Erich zusammen Gedanken über einen Namen für das Kind gemacht: So verrückt ist man doch eigentlich höchstens beim ersten Kind!Aber ich bin froh darum, dass es so gewesen ist, denn hätte ich diese Dinge nicht sofort getan, so wären sie niemals geschehen – das wurde mir nach dem Tod des Kindes klar. Es hätte dann keinen Namen gehabt, und niemand hätte von seiner Existenz gewusst. Viele Frauen entscheiden sich ja, das Wissen um ihre Schwangerschaft in den ersten drei Monaten für sich zu behalten, um zunächst einmal abzuwarten, ob das Kind sich gesund entwickelt. Ich habe es allerdings so als positiv erlebt.

Nach meiner Fehlgeburt war es ein großes Bedürfnis für mich, diesen Schmerz mit anderen teilen zu können.Leider scheint es so zu sein, dass das dritte Kind schon etwas suspekt ist. Manche Reaktionen auf die Schwangerschaft haben mich verletzt: Es gab kaum jemanden, der uns zu diesem Kind gratuliert hat, noch nicht einmal meine Eltern. Zwei Kinder scheinen ganz normal, aber beim dritten bekam ich fast nur Dinge zu hören wie: „Ach, ja!“ – „Hattet ihr das geplant?“ Irgendwie ist mir mein Baby dadurch noch mehr ans Herz gewachsen. Es war, als hätte ich mich mit ihm gegen den Rest der Welt verbündet, zumal selbst die Freude des Vaters nur verhalten war. Dann war es eben allein mein Baby.Im KrankenhausDie Fehlgeburt selbst verlief ganz unspektakulär – es war eben „nur eine Fehlgeburt“ … Am Gründonnerstag hatte ich abends noch einmal eine Kontrolluntersuchung mit Ultraschall bei der Frauenärztin. Ich war in der 9. Schwangerschaftswoche, alles war in Ordnung; ich hatte es auch nicht anders erwartet. Am nächsten Tag, Karfreitag, den 25. März 2005, ist, wie ich glaube, das Kind in meinem Leib gestorben. Denn die Ärzte sagten später, es sähe so aus, als sei es schon länger tot; wenn nicht schwarz auf weiß im Mutterpass stehen würde, dass die Untersuchung am Donnerstag ohne Befund war, hätten sie es nicht geglaubt. Am Karsamstag habe ich den ganzen Tag damit zugebracht, ein Buch über Fehlgeburten zu lesen: das Buch „Leise wie ein Schmetterling. Abschied vom fehlgeborenen Kind“ von Ute Horn. Ich hatte es bei meinem Mann auf dem Schreibtisch entdeckt, der sich beruflich mit Büchern beschäftigt, und ich konnte einfach nicht aufhören, darin zu lesen. Obwohl ich ein schlechtes Gefühl dabei hatte, denn es machte mir Angst, von diesen extremen Zahlen zu lesen: Die Autorin hat selbst fünf Kinder verloren …

Obwohl es beängstigend für mich war, so ist es letztlich doch hilfreich für mich gewesen, mich mit dieser traurigen Wirklichkeit auseinander zu setzen. Gott hat dieses Buch benutzt, um mich dadurch auf mein kommendes Schicksal vorzubereiten: Wie sollte er uns auf etwas Schlimmes vorbereiten, ohne uns dabei zu beunruhigen?Als ich am nächsten Abend, dem Ostersonntag, eine leichte Blutung bei mir bemerkte, hatte ich große Angst um das Leben meines geliebten Kindes und konnte gar nicht einschlafen. Ich habe Erich geweckt, und zusammen haben wir für das Baby gebetet. Am nächsten Morgen war die Blutung weg, am Montagabend aber wieder da. Und am Dienstagmorgen ist sie geblieben … Nun waren die Osterfeiertage vorbei, und ich rief in der Praxis meiner Frauenärztin an. Anrufbeantworter – sie war in Urlaub. Ihre Vertretung schickte mich direkt ins Krankenhaus.Kleinlaut und voller Angst bin ich mit meinen beiden Kindern zum Krankenhaus gefahren. Erich hatte ich auf der Arbeit angerufen, er kam auch dorthin. Wie wohltuend war es, dort eine freundliche Behandlung zu erfahren. Ich sprach mit dem Chefarzt der Gynäkologie, Dr. Hoffmann, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass ich so viel und so oft fragen konnte, wie ich es wollte und brauchte. Er führte eine Ultraschalluntersuchung durch, und nach einigen Minuten des Schweigens machte er mir in mitfühlenden Worten klar, dass das Herz unseres Kindes nicht mehr schlug. Er war sich ganz sicher, dass es tot war – aber er ließ uns alle Möglichkeiten offen. Ich könne mich stationär im Krankenhaus aufnehmen lassen. Ich könne nach Hause fahren und am nächsten Tag zur Ausschabung wiederkommen, wozu er mir riet. Ich könne mir aber auch noch mehr Zeit lassen und zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt zur Ausschabung kommen: „Sie dürfen mir das nicht übel nehmen, wenn ich das so sage, aber für uns ist das ein kleiner Routine-Eingriff, den kriegen wir immer unter.“ Er bot mir auch an, dass ich, sooft wie ich wollte, wieder zu einer Ultraschall-Untersuchung kommen dürfe, denn er spürte, dass ich die Tatsache nicht wahrhaben wollte.„Dem Herrn gehören die Säulen der Erde“.

Abends fühlte ich mich wie gelähmt, wie im Traum, wollte mich nur noch auf dem Sofa in eine Decke einhüllen und meinen verletzten Körper schützen. Erich wurde für uns aktiv, rief beim Pastor unserer Gemeinde an, und tatsächlich kam er an diesem Abend zusammen mit einer der Ältesten zu uns. Wir haben für das Leben dieses Kindes gebetet und gekämpft, aber tief im Herzen hatte ich nicht viel Hoffnung. Ähnlich wie vor ein paar Wochen saßen wir in unserem Kaminzimmer und lasen in der Bibel den Lobgesang der Hannah. Wie anders erschien uns diesmal dieser Text – einfach, weil die Situation, in der er zu uns sprach, so ganz anders war! Hatte ich dieses Lied neulich als einen Ausdruck der Freude und des Triumphes gelesen, so stachen mir nun die Verse in die Augen: „Der Herr tötet und macht lebendig; er führt ins Totenreich hinab und wieder herauf. Denn dem Herrn gehören die Säulen der Erde, und auf sie hat er den Erdkreis gestellt.“Wir hatten uns entschlossen, am nächsten Morgen noch einmal zu einer Ultraschall-Untersuchung ins Krankenhaus zu fahren: Vielleicht hatte man sich ja geirrt? Aber wenn nicht, dann würde ich da bleiben und gleich die Ausschabung machen lassen. Erich nahm sich von der Arbeit frei, für Erich Jakob und Sarah organisierte ich eine Kinderbetreuung.Nach einer Nacht mit einem furchtbaren Traum machten wir uns fertig für das Krankenhaus; unsere Tagesmutter kam vorbei. Erich Jakob, mein Großer mit seinen viereinhalb Jahren, zeigte mir seine Liebe dadurch, dass er unbedingt mit uns gehen wollte. Er spürte, dass seiner Mama etwas Schweres bevorstand und er wollte mich dabei nicht allein lassen. Über die Schlafanzughose zog er sich eilig Straßenschuhe an, und er war kaum dazu zu bewegen, zu Hause bei Sarah zu bleiben. Wie schwer war mir das Herz!Im Krankenhaus wurde auch bei der erneuten Untersuchung kein Herzschlag festgestellt.

Während ich noch im Untersuchungsstuhl lag, blitzte ein Gedanke in mir auf: Jetzt muss ich für mein totes Kind kämpfen, damit es wenigstens nicht im Mülleimer verschwindet. Innerlich versuchte ich schon, die Krallen auszufahren, aber ich fühlte mich eigentlich viel zu schwach, um zu kämpfen. Da sprach der Arzt das Thema von sich aus an, bevor ich es überhaupt erwähnte: „Sie sollen wissen, dass in unserem Krankenhaus alle fehlgeborenen Kinder richtig beerdigt werden. Schwester Marlies, unsere Krankenhaus-Seelsorgerin, kümmert sich darum, und sie macht das sehr gut. Der Beerdigungs- Gottesdienst ist eine sehr schöne Feier. Immer wieder habe ich von betroffenen Eltern gehört, wie gut es ihnen tat, daran teilzunehmen …“Diese Worte waren mir in diesem Moment ein echter Trost. Wie froh ich war, in einem katholischen Krankenhaus zu sein, wo der Schutz des ungeborenen Lebens ganz praktisch verwirklicht wird! Meistens mache ich im Leben die Erfahrung, dass ich selbst für die Dinge sorgen muss, die mir wichtig sind. Aber hier, wo es wirklich drauf ankam, da war es auf einmal, als würden meine innersten Wünsche wie von selbst erfüllt; das war ein großes Geschenk für mich.Kluft zwischen Körper und SeeleDie Ausschabung selbst ist mir in schrecklicher Erinnerung. Obwohl man sich in diesem Krankenhaus um einen freundlichen Umgang mit den Patienten bemüht – die medizinische Maschinerie forderte ihren Tribut. Wir mussten noch bis zwei Uhr mittags warten. Dann kam der Eingriff: In den kühlen OP-Räumen wurde mir sogar das Krankenhaushemd wieder ausgezogen, ganz nackt lag ich jetzt unter einer sterilen Decke. Die ganze Zeit über weinte ich Rotz und Wasser; ich hatte kein Taschentuch, und ich fürchtete, dass bei einer so verstopften Nase die künstliche Beatmung nicht möglich sein würde… Wie eine Erlösung war es für mich, als ich endlich durch die Narkose dieser Situation enthoben wurde.Beim Aufwachen spürte ich sofort eine unglaubliche Erleichterung. Mit dem toten Kind im Bauch, gleichzeitig schwanger und nicht schwanger, hatte sich mein Innerstes zutiefst „falsch“ angefühlt. Jetzt war es plötzlich wieder „richtig“. Die Segnungen der modernen Medizin sind schon fast absurd, wo man sich wenige Minuten nach einem solchen Eingriff schon wieder völlig fit fühlen kann! Ich bemerkte auch eine tiefe Kluft zwischen meinem Körper, für den nun alles „in Ordnung“ war, und meiner Seele, die noch viel Zeit zur Heilung benötigen würde. Diese Zeit konnte ich mir in den darauf folgenden Wochen nehmen. Wann immer es möglich war, zog ich mich aus dem Familienleben zurück und verbrachte viele, viele Stunden damit zu schlafen, spazieren zu gehen, zu beten, in der Bibel zu lesen, Tagebuch zu schreiben, Bücher zum Thema „Fehlgeburt“ zu studieren, zu malen, Gespräche zu führen …Ich habe diese Zeit gebraucht. Denn im Verlauf dieser Wochen wurde mein Kind, nach seinem Tod, gleichsam in meinem Geist geboren. Am Anfang war da nur ein wirres Knäuel von unbeantworteten Fragen: Wer ist mein Kind? War es ein Junge oder ein Mädchen? Was ist sein Name? Wann ist es gestorben? Warum ist es gestorben? Was bedeutet sein Tod für mein Leben? Wo ist es jetzt? Am Ende dieses Prozesses war in all dieses Wirrwarr Licht gekommen, und heute sehe ich klarer als zuvor.Der wichtigste Schritt war für mich, einen Namen für unser Kind zu finden: Samuel. Zwar konnte das Geschlecht des Kindes auf medizinischem Weg nicht bestimmt werden. Aber (das habe ich jetzt erst gelernt): Es gibt zwei Arten von Wahrheit – eine äußere und eine innere Wahrheit. Während ich die äußere Wahrheit mit meinen fünf Sinnen wahrnehmen kann, konnte ich die innere Wahrheit nur mit dem Herzen und im Geist finden. Die Wege dazu sind ebenso vielfältig wie zuverlässig: Gebet, Schweigen, Nachdenken, Träume, Intuition…So ist die Entscheidung, dass unser drittes Kind ein Junge war, nicht willkürlich gefallen, sondern das Ergebnis eines längeren Prozesses geistiger Arbeit. Der Name Samuel hat mit dem Lobgesang der Hannah zu tun, der uns am Beginn und am Ende dieser Schwangerschaft so wichtig geworden war. Außerdem habe ich auch einen Todestag für Samuel herausgefunden, so dass wir ihn zum Angedenken haben: Karfreitag, der 25. März 2005. Auch über den Geburtstag musste ich längere Zeit nachdenken: Hat Samuel überhaupt einen Geburtstag? Etwa der errechnete Geburtstermin? Für mich war es zuerst einfach ein ungeborenes Kind. Dann aber wurde mir klar: Zu jeder Schwangerschaft gehört an ihrem Ende eine Geburt, und auch eine Fehlgeburt ist eine Geburt – wenngleich Samuel zu diesem Zeitpunkt schon tot war. Ich habe ihn also am Mittwoch, den 29. März 2005 im St.-Clemens-Hospital in Geldern geboren. Noch etwas wurde mir im Laufe der Zeit deutlich: Ich möchte nicht von „Fehlgeburt“ sprechen. Für mich klingt das irgendwie abwertend, so wie „Missgeburt“ oder als hätte irgend jemand dabei einen „Fehler“ gemacht. Ich will auch nicht davon sprechen, dass ich mein Kind „verloren“ habe, denn inzwischen bin ich zu der Einsicht gelangt, dass Samuel – so wie jeder andere verstorbene Mensch – durch seinen Tod nicht einfach „weg“ ist, sondern dass er in der jenseitigen Welt weiter lebt. Für die Hinterbliebenen besteht die Aufgabe nicht einfach darin, den Verstorbenen „loszulassen“, sondern die Beziehung sich wandeln zu lassen, um sie aufrechtzuerhalten.Früher habe ich zwar auch schon an ein Leben nach dem Tod geglaubt, aber dieses Leben bei Gott war von meinem eigenen Leben weit entfernt: Diesseits und Jenseits waren wie durch eine undurchdringliche Mauer voneinander getrennt. Durch Samuels Tod ist es, als sei ein Teil von mir schon vorausgegangen in diese jenseitige Welt – und sie ist mir viel näher gerückt. Zwar ist sie noch immer klar von dieser Welt getrennt, aber wie durch eine Wand aus Glas: Ich kann hinübersehen, und ich tue es gerne.Wo ist mein Kind jetzt?Ein wichtiges Thema war schließlich die Frage der Beerdigung für mich. In den Tagen nach der Ausschabung konnte ich nicht recht schlafen; ich lag nachts wach und war von großer Unruhe erfüllt. Innerlich beschäftigte mich die Suche nach meinem toten Kind – ich wollte wissen, wo es jetzt ist. Schließlich rief ich im Krankenhaus an, und man teilte mir mit, dass alles „Ausschabungsmaterial“ per Kurier in ein pathologisches Institut nach Oberhausen geschickt wird. Dort wird es anschließend konserviert und bis zum Termin für die nächste Sammelbestattung aufbewahrt. Ich besorgte mir die Telefonnummer dieses Instituts und rief auch dort an. Voller Angst, denn ich befürchtete, mit meinen Fragen nur abgewiesen zu werden – aber es kam anders. Eine sehr verständnisvolle junge Ärztin nahm sich viel Zeit für das Gespräch mit mir und beschrieb mir ganz genau den Ort, wo sich die sterblichen Überreste von Samuel befanden: ein gekühlter Raum, aber nicht im Keller, mit weißen Regalen, worin die mit Zahlen genau markierten Plastikbehälter stehen; darin werden die kleinen Körper, in Paraffinblöcke gegossen, aufbewahrt. Da ich mir das alles immer noch nicht recht vorstellen konnte, versprach sie mir, diesen Raum aufzusuchen und sich mein Kind genau anzusehen, um mich am nächsten Morgen anzurufen und es mir zu beschreiben. Ich hatte einfach keine Vorstellung davon, was da in meinem Körper gewesen war: Millimeter groß oder Zentimeter? Schon ein erkennbarer Mensch? Am nächsten Morgen rief sie tatsächlich wieder bei mir an und machte mir einfühlsam, aber unmissverständlich klar: Es ist kein Kind mehr zu sehen; Samuels Körper wurde durch die Ausschabung total zerstört. Daran hatte ich während der Stunden im Krankenhaus gar nicht gedacht. Aber nun weiß ich: Sollte ich noch einmal eine Fehlgeburt erleiden, so möchte ich, wenn irgend möglich, eine Ausschabung vermeiden beziehungsweise so lange warten, bis das Kind selbst vom Körper ausgestoßen wird.Früher dachte ich: Wenn ein Mensch einmal gestorben ist, dann ist es relativ bedeutungslos, was mit seinem toten Leib geschieht; höchstens für die Angehörigen hat es symbolische Bedeutung. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass dem nicht so ist.

Denn: Ebenso wichtig wie die unsichtbare Wirklichkeit, ist auch die sichtbare. Der Leib behält seine Würde, auch wenn er von der Seele verlassen worden ist. Ich glaube, dass die innere Unruhe, die ich nach der Ausschabung verspürte, nicht aus mir selber kam, sondern von meinem Kind. Die Seele meines Kindes konnte nicht zur Totenruhe gelangen, solange sein Körper zerfetzt in einem Paraffinblock im Neonlicht der pathologischen Abteilung lag: „Von der Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden …“ Seine unruhige Seele versetzte auch meine Seele in Unruhe, da ich der Mensch auf Erden war, welcher Samuel am nächsten stand.Der AbschiedJetzt wurde es zu einer wichtigen, ganz persönlichen Aufgabe für mich, dafür zu sorgen, dass Samuel würdig beerdigt würde. Ich erkundigte mich zunächst nach den verschiedensten Bestattungsmöglichkeiten: Familiengrab, Reihengrab, Kinderreihengrab… Ein paar Wochen vorher noch hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftigen würde! Wir entschlossen uns letztendlich, von der Möglichkeit der Sammelbestattung Gebrauch zu machen, die vom Krankenhaus angeboten wurde. Da sie nur alle drei Monate durchgeführt wird und in unserem Fall gerade ein Termin vorüber war, mussten wir zwischen Samuels Tod und seiner Beerdigung eine Wartezeit von fast einem Vierteljahr in Kauf nehmen. Dies ist ungewöhnlich, und das lange Warten fiel mir schwer. Es hatte aber auch Vorteile: Wir hatten in jedem Fall ausreichend Zeit, um uns auf alles vorzubereiten, eine Geburts- und Todesanzeige für Samuel zu gestalten und so weiter.Das Überstürzte, Unerwartete, welches normalerweise mit einer Beerdigung einhergeht, war für uns nicht zu spüren. Während diese Abschiedsfeier oftmals durchgeführt wird, wenn sich die Hinterbliebenen noch in der Phase des Schocks befinden, so dass sie danach in ein tiefes Loch zu fallen drohen, war für mich die Beerdigung, die am 17. Juni 2005 auf dem Friedhof in Geldern stattfand, in gewisser Weise der „krönende Abschluss“ eines intensiven Trauerprozesses.Es war für uns hilfreich, dass wir uns aktiv in die Gestaltung der Beerdigung einbringen konnten, wobei die zuständigen Krankenhausseelsorger auf unsere Wünsche in jeder Weise eingingen: Wir durften den Text für die biblische Lesung selber aussuchen und im Gottesdienst vortragen (natürlich der Lobgesang der Hannah aus dem 1. Buch Samuel). Ich habe ein Gebet vorgelesen. Erich hat zusammen mit Erich Jakob einen kleinen Kindersarg gebaut; ich habe ihn dann weiß angestrichen und mit Stroh und Leinen ausgepolstert. Die 34 fehlgeborenen Kinder, die bei dieser Sammelbestattung beerdigt werden sollten, wurden gemeinsam darin gebettet. Erich hat den Sarg im Anschluss an den Gottesdienst eigenhändig zu Grabe getragen. Am Grab hat er ihn zusammen mit dem Bestatter in die Erde hinabgelassen.Besonders wichtig war es für mich, dass ich Samuel selbst in den Sarg hineinlegen konnte. Die Krankenhausseelsorger haben dafür zwei Tage vor der Beerdigung eine eigene kleine Feier mit mir im Abschiedsraum des Krankenhauses abgehalten. Dies war der einzige Moment im Leben, wo ich mit meinen eigenen Augen etwas von meinem Kind Samuel sehen durfte. Und mit den Augen der Liebe konnte ich auch an diesem winzigen Überrest noch etwas Liebenswertes entdecken: Die kleine Nabelschnur war ganz deutlich zu erkennen. Zwar war sie abgerissen – aber indem sie sich weit ausstreckte, war sie doch zugleich ein Symbol der Verbundenheit zwischen Mutter und Kind. Wir haben gebetet, ich habe geweint, ich habe den winzigen Körper noch einmal in meinen Händen gehalten und mit meiner Wärme erfüllt. Dann habe ich Samuel in ein handgemaltes Seidentuch gehüllt, in den Sarg hineingelegt und mich von ihm verabschiedet.Auch wenn es vielleicht merkwürdig klingen mag: Die Beerdigungsfeier war bei aller Traurigkeit zugleich „schön“, denn wir durften erleben, dass alles unserem innersten Empfinden und Bedürfnis entsprach. So gab es in all dem Schweren doch ein „gut“. Das Einzige, was mich befremdete: Von den 34 Kindern, die da gemeinsam beerdigt wurden, waren wir die einzigen Eltern, die zu der Feier erschienen! Wären wir und die wenigen Menschen, welche unserer Einladung gefolgt waren, nicht da gewesen, so hätten die beiden Seelsorger den Gottesdienst alleine gefeiert. Das hätten sie auch getan, wie mir Schwester Marlies versicherte, mit dem gleichen liebevollen Blumen- und Kerzenschmuck, mit Liedern und Gebeten – stellvertretend für die abwesenden Eltern. „Denn für uns sind das alles Kinder, von Anfang an, egal, ob sie in der 6. oder in der 26. Woche geboren werden.“ Wie gut hat es mir getan, diese Worte zu hören.

Jutta Koslowski, geb. 1968, ist Sozialpädagogin und Theologin. Sie erwartet ihr viertes Kind und lebt mit ihrer Familie in Geldern;veröffentlicht in der aktuellen Family-Ausgabe 2006