Brief aus der Heimat

Das Bähnlein rattert durch die Nacht in die Berge. In fürchterlichem Gedränge sitze ich neben meiner Mutter und überlege mir, ob ich ihr wohl sagen soll, was mich bedrückt. Sie hat mich in Tübingen abgeholt, wo ich Theologie studiere. Und nun fahren wir zusammen in Richtung Schwäbische Alb. Schließlich fasse ich mir ein Herz. »Weißt du, Mama, ich habe gar keine rechte Freude mehr an der Bibel, ich finde da so viele unverständliche und schwere Dinge. Es sind so viele Widersprüche und Unbegreiflichkeiten, die dieses Buch für einen doch reichlich ungenießbar machen.«

Meine Mutter lacht hell auf: »Das liegt daran, dass du die Bibel ganz verkehrt liest.« Etwas beleidigt fahre ich auf, sodass ein Mann neben uns erstaunt die Zeitung sinken lässt. »Ja, wie soll ich sie denn lesen? Ich lese sie im hebräischen und griechischen Urtext. Ich lese Kommentare. Ich höre Vorlesungen…«

Die Mutter legt mir beschwichtigend die Hand auf den Arm: »Ich will dir mal ein Beispiel erzählen. Weißt du noch, wie du im Krieg fast zwei Jahre ununterbrochen im Feld warst, ohne dass du Urlaub bekamst? Ich schrieb dir damals regelmäßig von den Ereignissen zu Hause. Und dann kam eines Tages ein Brief von dir, den ich nicht vergessen habe. Du schriebst: >Ich lese in euren Briefen von Lebensmittelkarten, von Hamsterern, von Schlangestehen. Ich verstehe das alles nicht. Hat sich denn bei euch alles so verändert?< Und dann kam der Satz, der mich so bewegt hat: >Wie lange und wie weit bin ich von euch weg, dass ich die Briefe aus der Heimat gar nicht mehr verstehen kann!« Ich nicke. »Ja, ich kann mich erinnern. Aber was hat das mit der Bibel zu tun?« »Siehst du«, fährt die Mutter fort, »du hast damals nicht gesagt: >Die Briefe meiner Mutter sind für mich modernen Menschen ungenießbar. Du hast auch nicht gesagt: In den Briefen meiner Mutter stehen Widersprüche und unsinnige Dinge. Du hast einfach nur gesagt: Wie lange und wie weit bin ich von zu Hause weg, dass ich die Briefe aus der Heimat nicht mehr verstehen kann!« Ich beginne zu begreifen. Aufmerksam höre ich ihr zu. »Die Bibel ist auch ein Brief, mein Sohn. Sie ist ein Brief des lebendigen Gottes aus der ewigen Heimat – an dich geschrieben. Wenn du diesen Brief nicht mehr verstehen kannst, darfst du die Schuld nicht bei dem Brief suchen. Es liegt an dir selbst. Du musst sagen: >Wie entsetzlich weit bin ich von meinem himmlischen Vater weggekommen, dass ich seinen Brief nicht mehr verstehen kann! Jetzt will ich mich erst recht hineinvertiefen und ich will um den Heiligen Geist bitten, damit ich den Brief aus der Heimat verstehen lerne.« Von da ab war es zwischen uns sehr still, bis das Bähnlein in Urach hielt. Aber den Rat der Mutter habe ich nicht mehr vergessen. Er hat mir den Weg in die Bibel hinein gezeigt.

Pfr. Wilhelm Busch, Essen