Leben Nummer 2

Ein bißchen nervös bin ich schon, als ich das Krankenhaus betrete. Ich frage mich bange, was für eine Situation ich vorfinden werde. Ich besuche einen Freund, er ist etwa in meinem Alter und wir haben eine Zeit lang zusammen studiert. Vor sechs Monaten haben wir noch mit ein paar anderen Freunden zusammen gesessen und uns gegenseitig aus unserem Leben erzählt. Er ist ein vielbeschäftigter Anwalt – aber nun ist alles anders. Vor 10 Wochen ist er plötzlich einfach umgefallen – Schlaganfall. Wochenlang haben die Ärzte um sein Leben gekämpft – nun ist sein Zustand stabil aber der Schlaganfall hat Schäden hinterlassen. Als ich das Krankenzimmer in Erwartung von Apparaten und Monitoren betrete, bin ich überascht – denn es sind keine Maschinen da. Dafür strahlt mich mein Freund aus seinem Krankenbett an. Er lacht und gestikuliert! Reden kann er nicht – er hat eine Röhre im Hals. Schlucken auch nicht. Die rechte Körperseite ist nicht unter Kontrolle. Aber er strahlt! Er freut sich, er drückt meine Hand – mit links!  Ich suche nach Worten, bin aber nicht sonderlich erfolgreich. Mein Freund deutet zu Block und Stift auf dem Nachttisch. Er schreibt mühsam mit der linken Hand Worte, während ich den Block halte.

BIN FAST GESTORBEN!

MEIN LEBEN NUMMER 2!

Eben noch gehetzt von Termin zu Termin  – und jetzt schleichen die Minuten langsam und bedächtig dahin. Eben noch mitten im Leben – und jetzt? LEBEN NUMMER 2 … Ganz anders als gedacht, aber dankbar. Weil das Leben ein Geschenk ist. Weil er noch leben darf.

Was mir oft so alltäglich und verfügbar erscheint, verliert in diesem Krankenzimmer jede Selbstverständlichkeit. Und es wird kostbar, weil es so zerbrechlich ist, weil es begrenzt ist, weil es jederzeit ganz anders sein könnte.

Als ich wieder im Auto sitze, läßt mich eine Frage nicht mehr los: Brauchen wir eigentlich immer erst den Crash, um LEBEN NUMMER 2 zu ergreifen? Können wir es nicht auf andere Weise lernen – dass das Leben kostbar ist – und jeder Moment ein Geschenk. Wirklich nicht?! Lernen wir nur auf diese Weise? Das kann doch nicht sein, oder?

Autor: Jörg Albrecht (Willow Creek Team) im Juni 2014