Überraschungen mit Gott – Berufungen und Aufträge

Die Berufung des Jeremia zum Propheten (Jeremia 1,4-10) steht ganz am Anfang seines Buches. Und so unvermittelt, wie die ersten Verse es andeuten – „Und des HERRN Wort geschah zu mir“ – so unvermittelt treffen sie auch den jungen Jeremia und verändern sein Leben. Er wird eine der ganz großen Gestalten des Alten Testaments. Kaum ein Prophet hat so gelitten unter seinem Amt, Gottes Wort offen und frei den Menschen zu sagen. Das zeichnet einen Propheten ja aus. Er hat das getan in schwierigster Zeit, in einer Zeit der Bedrohung, der Zerstörung und des Untergangs für das Volk Israel. Alles das aber ist noch Zukunft, als er den Ruf Gottes hört, als des HERRN Wort an ihm geschieht. Um berufen zu werden, muss ich erst einmal hinhören, ich muss den Ruf hören. Das macht Jeremia. Doch was er hört, klingt unglaublich in seinen Ohren. „Noch bevor du von deiner Mutter geboren warst,“ sagt die Stimme, von der Jeremia sofort weiß: es ist Gott selbst, der zu ihm redet,“ ja, noch mehr: bevor du überhaupt entstanden bist, habe ich dich gekannt, bevor irgendein Mensch an dich gedacht hat, wusste ich: Dieser Jeremia, noch nicht gezeugt, noch nicht geboren, soll mein Prophet für die Völker sein.“

Wie alt ist Jeremia, als er diese Worte hört? Wir wissen es nicht genau, doch wir wissen, wie er sich fühlt: zu jung und überhaupt nicht geeignet! Welche Träume mag der junge Jeremia für sein Leben gehabt haben? Wir erfahren nichts darüber. „Ich tauge nicht zu predigen“, sagt er, „ich kann das gar nicht, was du mit mir vorhast, Gott! Das passt nicht zu mir!“ Jeremia spürt – und muss es später zum Teil leidvoll erfahren: Gottes Ruf stellt meine Lebenswünsche in den Hintergrund. Prophet für die Völker soll er sein, und er wird es auch. Doch bisweilen droht er unter der Last seiner Aufgabe zu zerbrechen. Ob er das schon ahnt, als er sich gegen seine Berufung wehrt?

Gott nimmt behutsam, aber bestimmt seine Einwände auf. Zu jung? Nein, das lässt er nicht gelten. Wenn Gott ruft, gibt es kein zu alt oder zu jung. Nicht das ist entscheidend, was wir von uns denken, sondern was Gott in uns sieht. Das nennt die Bibel Gnade. „Das passt nicht zu dir? Doch! Ich sah von Anfang an, dass dein Lebenskleid diese Aufschrift trägt: Prophet für die Völker. Meine Gnade sieht in dir viel mehr, als du von dir weißt. Predigen sollst und wirst du, was ich dir sage. Die Aufgabe ist groß, aber fürchte dich nicht, hab keine Angst, ich bin bei dir und ich werde dich erretten.“ Wen Gott beruft, den lässt er nicht allein, diese Erfahrung haben viele Boten Gottes gemacht. Jeremia hört diese Worte als tröstlichen Zuspruch an dieser Lebenswende. Und das ist auch nötig, denn nun spürt er Gottes Hand an seinem Mund: „Ich lege dir meine Worte in den Mund. Heute setze ich dich über Völker und Königeiche. Niemand steht über dir, du stehst über allem. Und das ist deine Aufgabe: du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben und bauen und pflanzen.“ Wem, liebe Schwestern und Brüder, würde nicht mulmig werden bei diesem Auftrag: zerstören, ausreißen, verderben? Vieles läuft verkehrt in Israel damals, das muss raus, muss verschwinden an Missständen. Jeremia wird vor allem das Verhältnis Israels zu seinem Gott beklagen. Das wiegt sich in falschen Sicherheiten, läuft anderen Göttern hinterher, taktiert lieber politisch, als dass es auf Gottes Wort hört. Alles das beklagt der Prophet Jeremia. Er kündigt das Strafgericht Gottes an. Ausreißen und zerstören will er mit seinen Worten den Götzendienst, die Möchtegernpropheten, die das Volk einlullen. Alles raus, mit Stiel und Stumpf. Es hat manche dieser Zerstörer im Namen Gottes gegeben, die in blindem Hass um sich schlagen. Richtig dabei ist: Wenn etwas völlig vom Kurs abgekommen ist ist, dann muss ein neuer Anfang gemacht werden. Wenn ein neuer Anfang geschehen soll, dann muss das verfahrene Alte erst einmal raus. Doch da, wo diese Fanatiker auch heute nur Zerstörung anrichten, ist für Jeremia erst der halbe Auftrag getan. Er soll auch noch pflanzen und bauen. Das bleibt in all den Wirren und Schrecken der Zeit Jeremias der große Trost: Gott gibt sein Volk nicht verloren, selbst als ein Großteil nach Babel verschleppt wird. Nein, das ist nicht das Ende. Nach der Katastrophe wird Gott einen neuen Anfang machen. Dort, wo Zerstörung herrscht, soll neu gepflanzt und gebaut werden.

O ja, es ist ein großer, ein schwerer Auftrag, der Jeremia auf den Schultern liegt. Von keinem anderen Propheten hören wir, wie sehr er unter seinem Auftrag leidet. „Ach, wäre ich doch nie geboren worden!“, so ruft er einmal unter Qualen aus (Jer 20, 14-18). Denn natürlich wird er angefeindet. Sein kritisches Wort will niemand hören. Viele verspotten ihn oder erklären ihn zu einem Lügner, andere trachten ihm nach dem Leben. Er klagt über seine Einsamkeit. Und doch: neben der Klage und dem drohenden Gericht ist auch immer wieder von der Hoffnung zu hören. Ja, und es scheint auch immer die Zuversicht durch: „Was ich auch tue, was andere mir auch antun: Der Herr ist bei mir wie ein starker Held! Was er mir bei meiner Berufung zugesagt hat, das erlebe und spüre ich immer wieder: „Fürchte dich nicht! Ich bin bei dir und will dich erretten.““ Wie ein Schutzanzug legen sich diese Worte um Jeremia; in allen Anfeindungen, selbst in allen Zweifeln weiß er sich von Gott gehalten und getragen. Von Jeremia wurde vieles wurde gefordert, doch ihm war auch viel gegeben und anvertraut. Gott fordert nie über Gebühr. Auch wenn er Jeremia bis an die Grenze führte, was er leisten konnte – er führte nie über die Grenze hinaus.

„Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.“ Dieses Wort aus dem Lukasevangelium, das uns in die neue Woche begleiten soll, bringt uns wieder zurück in unsere Zeit. Die Erzählung von Jeremias Berufung fragt uns heute: Was ist uns gegeben? Wozu sind wir berufen? Nun, zuallererst sollen wir auf Gottes Wort hören. Wir sollen wachsam und aufmerksam sein für das, was er mit uns vorhat. Zum Christsein gehört die Bereitschaft, sich rufen, sich be-rufen zu lassen. Martin Luther hat ja das Wort Beruf erst gebildet im Bewusstsein: wo immer du auch bist, wo immer du arbeitest, dort sollst du Christus bezeugen. „Meine Gnade sieht in dir viel mehr, als du von dir weißt.“ Was Gott mit einem jeden von uns vorhat, da dürfen wir auf manche Überraschung gefasst sein. Ich denke an die Frau aus der Gemeinde, die vor Jahren schüchtern beim Kindergottesdienst anfing und heute selbstbewusst Konfirmandenunterricht gibt. Ich denke an Jugendliche, die nach der Konfirmation eine eigene Kindergruppe betreuen. Ich denke an den Mann, der sich, obwohl es ihn viel Kraft kostet, beim Hospizverein engagiert.

Niemand sollte von sich meinen, er sei zu jung, zu alt oder gar zu gering für Gott.
Aber es ist auch deutlich: die Aufgaben, die Gott uns zugedacht hat, sind oft schwer. Dietrich Bonhoeffer hat dies in besonderer Weise erfahren. Er wurde wirklich an die Grenze dessen geführt, was ein Mensch tragen kann. Und doch sagt er: „Ich bin gewiss, dass Gott uns immer die Kraft gibt, die wir brauchen. Aber er gibt sie uns nie im Voraus, damit wir uns in allem auf Gott allein verlassen.“ Welche Aufgaben auch immer auf uns warten, alle werden getragen von der Zusage, aus der auch Jeremia Kraft und Zuversicht schöpft: „Fürchte dich nicht vor dem, was auf dich zukommt. Ich bin bei dir.“ So können wir getröstet und getragen tun, was Gott von uns will. Auch den kleinen Jungen aus dem Schwimmbad, der so verängstigt war, wird das Taufgewand gut kleiden – und es wird ihn nicht überfordern! Ich bin gespannt, von welchen Startblöcken des Lebens er wirklich springen soll.

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