Ein Grundproblem des Menschen

Vom ungesunden Ego-Trip zur gesunden Gemeinschaft

Egoismus kann unsere Gesellschaft ruinieren. Doch ein gewisses Mass an Egoismus ist lebenswichtig. Wie wir das Leben in Gemeinschaft neu entdecken und lernen können.

Es war der Wirtschaftsprozess des Jahres 2004 in Deutschland. Es ging um die Frage, ob der Vorstand von Mannesmann nach der Übernahme durch Vodafone zu Unrecht Millionenprämien erhalten hatte. Der Verdacht: Das viele Geld habe die Entscheidung zu Gunsten einer Übernahme beschleunigt, der Vorstand habe sich persönlich auf Kosten einer Traditionsmarke bereichert. Das Interessante an diesem Fall war neben dem Urteil – Freispruch für die Angeklagten – auch das, was sich rund um den Fall ereignete. Politiker versuchten via Medien, einen Schuldspruch herbeizureden. Der Fall brachte die Volksseele zum Kochen. Kaum einer blieb beim Bild des mitangeklagten Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, des Schweizers Josef Ackermann, emotionslos, als dieser am ersten Prozesstag mit einem breiten Grinsen und mit einer
zum Victory-Zeichen erhobenen Hand den Sitzungssaal des Gerichts betrat. Die zur Schau getragene Selbstsicherheit des Mannes erzürnte manchen, der angesichts von Wirtschaftkrise und Arbeitslosigkeit seine Felle davon schwimmen sah. «Die da oben schustern sich gegenseitig Millionen in die Tasche, ich darf aufs Sozialamt», mögen viele gedacht haben.
Solche Fälle (vermeintliche und echte) der Bereicherung oder des Missbrauchs von Sozialleistungen samt der Raffgier von Politikern gibt es zuhauf. Und die Öffentlichkeit reagiert immer sensibler darauf.

Neue Fronten
Alle sind wir Egoisten, und alle haben wir Furcht vor dem Egoismus. Jeder von uns trägt die Ahnung in sich, dass übersteigerter Egoismus das Ende einer Gemeinschaft ist. Vielleicht sind so die teils hysterischen Reaktionen auf Fälle wie Mannesmann zu erklären. Die Selbstbezogenheit ist einer der ältesten Feinde des friedlichen Zusammenlebens zwischen Menschen. Seit Adam und Eva wissen wir, wie Eigennutz und die Furcht, zu kurz zu kommen, einen Keil in Beziehungen treiben können.
Dass Egoismus ein Grundproblem des Menschen bis ins 21. Jahrhundert hinein geblieben ist, beschrieb der Journalist und «Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert bereits Mitte der 90er-Jahre im Buch «Der Ehrliche ist der Dumme»: «Gewalt, Korruption und Betrug gehören in unserer Gesellschaft fast schon zum Alltag. Moralische Werte wie Ehrlichkeit und Solidarität drohen dem grassierenden Egoismus zum Opfer zu fallen.» Das Versagen des Sozialstaats ist für viele umso bitterer, je mehr sie an die Gerechtigkeit von Staats wegen glaubten, die den Egoismus des Einzelnen eigentlich überwinden sollte. Heute werden wir wieder auf uns selbst zurückgeworfen. Eigenverantwortung statt Gemeinschaftskasse, heisst es jetzt. Es entstehen neue Fronten: Jung gegen Alt, Familien gegen Kinderlose, Erwerbstätige gegen Menschen ohne Arbeit. Man beäugt sich misstrauisch und will seinen Besitzstand wahren. Das Thema «Egoismus» rührt an das Selbstverständnis unserer Gesellschaft wie kaum ein anderes.

Alles auf Zeit
Eine weitere Form des Egoismus ist der Trend zur Individualisierung. Hohe Ehescheidungsraten, so viele Single-Haushalte wie noch nie, immer weniger Kinder. Individualität ist zur Marke für postmodernes Leben geworden. Heute zählt vor allem Flexibilität im Beruf wie in der Partnerwahl. Unsere konsumorientierte Lebensphilosophie ist auf Testgebrauch und auf schnelles Wegwerfen aufgebaut: «Alles, aber alles nur auf Zeit. Nichts hält ewig.»

In der Gemeinde
Auch in christlichen Gemeinden werden Vokabeln wie «Verbindlichkeit» und «Zuverlässigkeit» nicht mehr selbstverständlich gebraucht. Niemand möchte sich gerne festlegen, und oftmals beginnt der Gottesdienst eben eine Viertelstunde später. Es herrscht Mangel an Leitern, die in den Dienst von Kleingruppen treten wollen. Doch auch die Formen des Egoismus unter Christen sind vielfältig. Da gibt es die Kuschelchristen, die sich selbst genügen und die aus Bequemlichkeit (fast) jede Anstrengung unterlassen, Menschen für Gott zu gewinnen. Da gibt es die, die Tag und Nacht für die Gemeinschaft da sind, mit dem (oft unbewussten) Ziel, dass alles so gemacht wird, wie sie es gerne hätten. Christliche Gemeinden stehen heute mehr denn je vor der Frage, wie Gemeinschaft gelingen und gelebt werden kann. Sie müssen das Lebensprinzip der Nächstenliebe und der Gemeinschaft immer wieder neu entdecken, weil sie sich im Kontext einer individualisierten Gesellschaft genau hierin, in der Fähigkeit, Gemeinschaft zu leben, unterscheiden müssen, um ihren Auftrag zu erfüllen.

Gesunder Egoismus
Dabei ist Egoismus nicht in jedem Falle schlecht. Vielmehr ist gesunder Egoismus lebenswichtig. So ermutigt Stefan Royer vom Institut für Kommunikationspädagogik in Wien dazu, sich mit seinen eigenen Bedürfnissen auseinander zu setzen: «Die Beschäftigung mit sich selbst wird oftmals fälschlich als Ego-Trip oder Egoismus bezeichnet. Doch wer sich nicht seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst macht, gibt sich immer mehr auf.» Es geht um ein fundiertes Selbstwertgefühl und darum, an der richtigen Stelle Grenzen zu ziehen, ohne dabei die Gemeinschaft zu belasten. Stefan Royer: «Ein gesunder Egoismus macht zufriedener, und das soziale Umfeld profitiert davon auf Dauer mehr als von Selbstlosigkeit. Gesunde Egoisten tun nämlich auch anderen gut.»

Vom Ich zum Du
Christen sind zur Gemeinschaft im Leib Christi bestimmt. Hier zählen gegenseitige Achtung, Vertrauen und Anteilnahme statt Selbstverwirklichung um jeden Preis. «Im christlichen Menschenbild konstituiert Beziehung das Menschsein des Menschen», drückt es Dominik Klenk von der ökumenischen Kommunität Offensive Junger Christen (OJC) in Reichelsheim aus. «Damit ein Mensch „Ich“ sagen lernt, muss er tausend Mal von einem „Du“ angesprochen werden. Was in den ersten Lebensjahren elementar ist, bleibt unser ganzes Leben lang ein Bedürfnis», fährt er fort. Kommunikation und Beziehungen seien Grundbedürfnisse des Menschen, so Klenk. Menschsein sei von Anfang an ein gemeinschaftliches Projekt, das alleine nicht gelingen könne. Eine lebendige und gesunde christliche Gemeinschaft achtet den anderen als bunten Mosaikstein zur Vervollständigung eines grossen Bildes aus der Meisterhand Gottes. Nur wer weiss, was er will und kann, was seine Identität, aber auch seine Schwäche ist, kann sich in die Gemeinschaft einbringen und ihr nach Kräften dienen. «Das Ich wird zum Du», bringt es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber auf den Punkt.

Gott schenkt Identität
Gott, der Schöpfer, schenkt uns eine je eigene Identität, die wir entdecken müssen. In der Gemeinschaft und mit der Korrektur anderer können wir herausfinden, wo unsere individuellen Fähigkeiten liegen, die wir zum Wohl unserer Mitmenschen und damit letztlich zu unserem eigenen Wohl einsetzen sollen. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» bedeutet dann nichts anderes als die Einsicht, dem anderen seine Individualität und seinen Charakter zuzugestehen, so, wie ich es auch von ihm erwarte. So führt ein gesunder Ego-Trip geradewegs zur Gemeinschaft miteinander.

Manuel Liesenfeld

Artikel aus dem Chrischona Magazin